Transitionspolitik

Transitionen lassen sich, wie es im Themenpapier zum 42. DGS-Kongress heißt, als ›fundamentale gesellschaftliche Umbrüche‹ verstehen – als tiefgreifende und ergebnisoffene Veränderungen, die verschiedene Dimensionen gesellschaftlicher Ordnung, einschließlich ihrer Gesellschaft-Natur-Verhältnisse, gleichzeitig betreffen. Sie übersteigen damit den unmittelbaren Wirkungsbereich von Gesetzen, Regeln, formalen Normen und expliziter Kommunikation. Sie umfassen weitere Dimensionen der sozial-kulturell-materiellen Gefüge, über die sich gesellschaftliche Ordnungen konstituieren, wie etwa Ästhetiken, Lebensstile, Konsummuster, Alltagspraktiken, Subjektkonstruktionen/Identitäten, Ethiken und Werte, implizite Selbstverständlichkeiten, materielle Infrastrukturen, Technologien, geteilte Wissensbestände oder gelebte Ontologien. In Prozessen der Transition werden kollektive Ordnungen häufig auch gleichzeitig in verschiedenen dieser Dimensionen problematisiert, umkämpft und mehr oder minder erfolgreiche Versuche ihrer Veränderung und Gestaltung angestellt. Beispiele dafür wären etwa Wandlungsprozesse im Zusammenhang mit dem Klimawandel, der digitalen Transformation, Globalisierung, Geschlechtergerechtigkeit oder Kämpfe um demokratische Ordnungsformen der Gesellschaft.

Dieses Panel fokussiert auf Formen des Politischen, die mit solchen Transitionen verbunden sind - es geht um Transitionspolitik. Sie findet nicht nur in den Institutionen des ›politischen Systems‹ statt – von sozialen Bewegungen, Medien öffentlicher Kommunikation und Parteien über Parlamente bis zu Regierungen und Verwaltungen – und sie ist auch nicht auf die klassischen Medien der Politik wie sprachliche Kommunikation und die Verhandlung von Normen beschränkt. Sie findet auch in Kunst, in Wissenschaft, in Technologieentwicklung, im Alltag statt – immer dort, wo kollektiv praktizierte Realitäten in Frage gestellt werden, Alternativen formuliert, demonstriert, installiert werden, wo Versuche gemacht werden, Normalitäten aufzubrechen und neu zu etablieren oder unausweichlich scheinende Veränderungen in bestimmte Richtungen zu lenken. Interessiert man sich für Transitionspolitik, so interessiert man sich entsprechend für Fragen folgender Art: Wo treffen wir auf Strategien, Taktiken und Praktiken der Problematisierung und Gestaltung von Transitionsprozessen, und wie sehen diese aus? Wie können wir sie (soziologisch) untersuchen? Und wie lässt sich soziologisch dazu beitragen, diese wiederum – reflexiv – zu gestalten?

Ein derart erweitertes Verständnis von gesellschaftlicher Ordnung und ihrer Politik ist konzeptionell mit dem ›cultural turn‹ verbunden (auch: postrukturalistische Theorie, Feministische Theorie, Science and Technology Studies, Postcolonial Studies). Danach erstreckt sich Politik etwa auch auf die Problematisierung und Gestaltung von Sinnesordnungen, Affektmustern, Sprechweisen, wissenschaftlichen Fakten, materiellen Ordnungen und Weltbildern. In Bezug auf Transitionspolitik wird dies Verständnis konkret, empirisch und relevant für die reflexive Navigation aktueller gesellschaftlicher Umbrüche.

Interessiert man sich für Transitionspolitik, so rücken insbesondere komplexe Wechselwirkungen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Denn umkämpfte ›Ordnungsbaustellen‹ in verschiedenen Dimensionen stehen miteinander in unhintergehbarem Zusammenhang und folgen mitunter irreduziblen Eigenlogiken. Wenn wir verfolgen und verstehen wollen, wie Transitionen ablaufen und gestaltet werden, müssen wir also erfassen, wie Ordnungen des Zusammenlebens in verschiedenen Dimensionen jeweils auf spezifische Weise problematisiert und kollektiv gestaltet werden und wie diese Prozesse miteinander in Verbindung stehen.

Dazu gehört dann zum Beispiel sowohl die Großbaustelle der ›Öffnung‹ von Wissenschaft für ›die Gesellschaft‹ mit widerstreitenden Orientierungen auf Ökonomisierung und Demokratisierung wie auch das umkämpfte Feld der ›Digitalisierung‹ mit der Herausbildung eines ›smartness mandate‹, inklusive entsprechender Kritiken und Widerstände. Es gehört auch die Umordnung der Kunst dazu, mit der Infragestellung von Autonomie, der Orientierung auf Partizipation und der Verflechtung mit Wissenschaft, Politik und Design. Es gehören auch Baustellen im Bereich von Identitäts-, Lebensstil- und Alltagsordnungen dazu, die – sei es als Selbstbezeichnung oder als Fremdzuschreibung – mit Begriffen wie ›Wokeness‹, Veganismus oder Queerness umschrieben werden und entsprechende Gegenbewegungen hervorbringen.  Transitionsprozesse erfassen auch die moderne Ontologie des Mensch-Natur Verhältnisses zwischen neo-modernistischem Transhumanismus und relational-ökologischer Dezentrierung des Menschen auf einem Konfliktfeld, das sich quer zu Philosophie, Anthropologie, Kunst, Religion und Spiritualität, Alltags-Vergemeinschaftungen und weiteren Sphären erstreckt. Schließlich gehört auch die Krise der institutionalisierten Politik und der Demokratie selbst dazu – und die Suche nach neuen Ordnungen der reflexiven Ordnungsgestaltung für unterschiedlichste Gemeinwesen, auf verschiedenen Skalen, im Spannungsfeld von intersektionalen Egalitäts- und Inklusionsbestrebungen, völkischem Autoritarismus und globaler Technokratie. Mit all diesen Beispielen sei jedoch lediglich exemplarisch das Spektrum angedeutet, über das sich Ordnungsumbrüche im Kontext von Transitionsprozessen vollziehen.

Das Panel lädt vor diesem Hintergrund zu einer Diskussion u.a. der folgenden Fragen ein:

  1. Wo und wie finden wir die Politik von Transitionsprozessen? Wie können wir sie (soziologisch) untersuchen und reflexiv gestalten?
  2. Wo und wie werden – in und quer zu verschiedenen Dimensionen – kollektive Ordnungen problematisiert, umkämpft und gestaltet – diesseits und jenseits der Grenzen dessen, was als ›politisches System‹ gilt?
  3. Wo und wie werden im Zuge mehrdimensionaler Transitionsprozesse kollektive Ordnungsentscheidungen getroffen, bzw. wie kommen sie zustande?
  4. Wie spielen Prozesse in verschiedenen Ordnungsdimensionen zusammen oder gegeneinander?
  5. Wie sind Prozesse der Ordnungsgestaltung selbst geordnet – in und quer zu verschiedenen Dimensionen kollektiver Ordnung?
  6. Inwieweit differieren unterschiedliche gesellschaftliche Kontexte hinsichtlich der Art und Weise, in der problematisierend und gestaltend auf Transitionsprozesse zugegriffen wird? Lassen sich global unterschiedliche ›Modi von Politik‹ beobachten, und worauf basieren ggf. ihre Differenzen?
  7. Lassen sich Kriterien angeben, nach denen Prozesse der multidimensional verteilten Transitionspolitik normativ bewertet, problematisiert und kritisiert werden können?
  8. Welche Rolle spielt Demokratie in diesem Zusammenhang? Wenn ja, welche Art von Demokratie? Oder treten jenseits der Demokratie auch andere Ordnungskonzepte für politische Prozesse hervor?

Ausrichtende Sektionen: Politische Soziologie, Soziologische Theorie, Umwelt- und Nachhaltigkeitssoziologie, Wissenschafts- und Technikforschung, Europasoziologie

Jury: Jan-Peter Voß ( jan-peter.voss(at)humtec.rwth-aachen.de), Cordula Kropp ( cordula.kropp(at)sowi.uni-stuttgart.de)