Wissenschaftliche Autorität in autoritären Verhältnissen: Politisierbarkeit und politische Verantwortung der Soziologie
Gemessen an ihrer Sichtbarkeit, ihrer Außenwirkung und ihrem Einfluss auf gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Debatten ist die Soziologie gegenwärtig in vergleichsweiser guter Verfassung. Hierfür sprechen jedenfalls eine Reihe von Indikatoren, etwa die Präsenz des Fachs in Bestsellerlisten und dem Feuilleton oder die Durchdringung unterschiedlicher Handlungsbereiche und Diskursarenen mit soziologischen Konzepten und Erkenntnissen. Die mediale Nachfrage nach soziologischer Expertise ist stark. Das ›Durchsickern‹ soziologischen Wissens geht allerdings mit der unausweichlichen Unkontrollierbarkeit dieses Wissens einher: In welcher Form und zu welchen (ursprünglichen Intentionen möglicherweise diametral zuwiderlaufenden) Zwecken gesellschaftlich auf welches soziologische Wissen wie und von wem zurückgegriffen wird, entzieht sich (logischerweise) dem Zugriff der Disziplin. Die Deutungshoheit der Soziologie über ihre Gegenstände wird bereits in dem Moment prekär, in dem sie diese in öffentlichkeitsrelevanter Weise als solche markiert und bearbeitet.
Dabei ist es nicht zuletzt die ›Polykrise‹ der Gegenwart, die (wieder) ein breiteres Bewusstsein für die Notwendigkeit und Relevanz sozialwissenschaftlicher Expertise befördert und so eine entsprechende Nachfrage auf Seiten diverser Akteur*innen erzeugt. Dabei werden den Wissenschaften (einschließlich der Soziologie) bisweilen eigentlich politische, ethische oder zivilgesellschaftliche (Entscheidungs-)Probleme in der Erwartung vorgelegt, diese mögen Kraft ihrer zugesprochenen Autorität abschließende Lösungen präsentieren (vgl. kritisch Bogner 2021). Aus dieser Gemengelage ergeben sich neu zu stellende Fragen nach der Politisierbarkeit und der politischen bzw. gesellschaftlichen Verantwortung der Soziologie, die seit dem Streit um die Werturteilsfreiheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Konfliktkanon des Faches gehören. Inwiefern diese Fragen ›alt‹ oder ›neu‹ sind und ob (bzw. in welchem Maße) die Soziologie in ihrer Expertise als ›Autorität‹ zu verstehen ist, ist selbst streitbares (reflexives) Wissen und Gegenstand soziologischer Debatten, die das Plenum fortführen möchte. Dabei liegt der Fokus auf der Frage nach der Rolle wissenschaftlicher Autorität in nach Feldern und Kontexten variierenden Prozessen der Transition hin zu autoritären Verhältnissen. Diese Dynamik wollen wir im Hinblick auf zwei Tendenzen weiter ausleuchten:
Erstens erleben wir in den vergangenen Jahren eine deutlich hörbare Infragestellung wissenschaftlicher Expertise zugunsten ›alternativer‹ Wissensformen. Diese Diagnose geht einerseits zurück auf reflexive Demokratisierungsprozesse, bei denen wissenschaftlichen Wissen lebensweltlich befragt und kritisch bewertet wird (z. B. Gesundheitsbewegungen oder antirassistische Kritik). Andererseits erhält sie, gewissermaßen als Kehrseite, zusätzliches soziologisches und gesellschaftliches Gewicht durch die Zunahme autoritärer (gesellschafts-)politischer Tendenzen – auf globaler Ebene in variierendem Maße, nach Einschätzung vieler Beobachter*innen aber auch in westlichen Demokratien und ›hierzulande‹. Mit der womöglich neu gewonnenen Autorität soziologischen Wissens müssen Soziolog*innen neuerdings in verstärktem Ausmaß in breiteren öffentlichen Diskursen ihre eigene Expertise legitimieren und ihre Forschungsthemen und ‑zugänge verteidigen. Soziale Kampffelder wie die Geschlechterforschung, die Sozial- und Migrationspolitik sowie Debatten zu öffentlicher ›Sicherheit‹ und Fragen der Wissenschafts- und Meinungsfreiheit sind hier im besonderen Maße betroffen. Wo sich auf diesen Feldern regressive Politiken mit der Infragestellung wissenschaftlicher Autorität paaren, werden zugleich die Voraussetzungen und Bedingungen autonomer Wissenschaft selbst fragil.
Zweitens stellt sich die Frage, inwiefern – unter welchen Bedingungen und in welchen Formen – die Soziologie und soziologisches Wissen instrumentalisierbar sind und bereits instrumentalisiert werden, z. B. wenn Ergebnisse soziologischer Analyse aus dem Kontext gerissen oder in unterkomplexer Weise präsentiert werden. So droht dem Fach ein paradoxer Effekt: Auf der einen Seite ist es gerade die öffentliche Anerkennung des Fachs und seiner Vertreter*innen, die derartige Instrumentalisierungen als attraktiv erscheinen lassen; auf der anderen Seite kann diese Indienstnahme der Soziologie jedoch, insofern sie mit einem Verlust der Autonomie der Disziplin einhergeht, gerade als ein Autoritätsverlust (beziehungsweise als dessen Ursache) beobachtet werden.
Im Rahmen des Plenums sollen theoretische Überlegungen und/oder empirische Forschungen zur gesellschaftlichen Relevanz und Politisierbarkeit der Soziologie diskutiert werden. Das Plenum fragt also nicht so sehr nach der aktiven politischen und/oder kritischen Positionierung der Soziologie als solcher, vielmehr geht es um die Rückseite derartiger (Nicht-)Positionierungen: um die Frage nach möglichen Haltungen zu normativ geprägten Instrumentalisierungen soziologischen Wissens, mit denen das Fach und seine Vertreter*innen aus anderen gesellschaftlichen Feldern konfrontiert werden. Beiträge, die sich diesen Fragen nicht lediglich am deutschen Beispiel zuwenden, sind besonders erwünscht.
Verantwortlich im Vorstand: Daniel Witte, Julia Hahmann
Jury: Stephan Lessenich (lessenich(at)soz.uni-frankfurt.de), Jasmin Siri (jasmin.siri.01(at)uni-erfurt.de)