Demokratie in Transition?
Demokratie in Transition?
Weltweit mehren sich seit einigen Jahren die Indizien: Demokratische Gesellschaftsformen befinden sich in der Krise, das Bewusstsein für ihre Zerbrechlichkeit nimmt offenbar ebenso zu wie die Bereitschaft zu ihrer Demontage; die ›Demokratie-Abgesangsliteratur‹ boomt. Diese Entwicklungen machen sich auch in Deutschland bemerkbar. Besonderssichtbar wird das aktuell im Verfahrenskomplex gegen die Reichsbürger:innen um Prinz Reuß vor den Oberlandesgerichten in Frankfurt, München und Stuttgart: Hier muss sich eine Gruppe verantworten, die einen konkretenPlan zum Umsturz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik gefasst hatte, deren selbstgeschaffene Normen auf einer ideologischen Ablehnung der bestehenden Rechtsordnung basieren und der es ganz explizit darum geht, eine alternative, antidemokratische Ordnung zu etablieren. Doch die Reichsbürger:innen sind nur das schillerndste Beispiel eines allgemeinen Trends: Radikales Gedankengut und extremistische Kräfte sind nicht nur bei Wahlen erfolgreich, sie scheinen auch darüber hinaus gesellschaftlich an Rückhalt zu gewinnen.
Diese Plenarveranstaltung stellt sich drei brennenden Grundsatzfragen: Wie lässt sich das Prekärwerdendemokratischer Ordnung erklären? Welche gesellschaftlichen Folgen hat diese Entwicklung? Und was kann die Soziologie in dieser Situation leisten? Die letzte dieser drei Teilfragen ist für das Fach deshalb so drängend, weilSoziologie häufig nicht die erste Adresse ist, wenn es darum geht, für ein breiteres Publikum solche Transitionsprozesse zu analysieren – wo es um Demokratie, demokratische Regression und Probleme etablierter politischer Institutionen und Verfahren geht, wird Aufklärungsexpertise eher in den Politik- und Rechtswissenschaften vermutet. Doch die Transitionen, die hier relevant werden, lassen sich gerade nicht auf politische und juristische Institutionen beschränken: Anti-demokratische Transitionen beeinflussen nicht nur Parlamente und Gerichte, sondern auch etwa Schulen undUniversitäten, Unternehmen und Gewerkschaften, Kirchen, Medien und Journalismus, Kultureinrichtungen und Kunstorte, Militär und Sicherheitsapparate, um nur einige zu nennen; Antisemitismus, Rassismus und Anti-Feminismus sind wichtige Marker anti-demokratischer Transitionen; sie können sich entsprechend bis in den Alltag der Einzelnenhinein auswirken, sie schlagen sich in öffentlichen Debatten nieder und haben Auswirkungen auf transnationaleZusammenhänge; ja, sie beeinflussen sogar Natur-Kultur-Verhältnisse, wie sich etwa am Beispiel der rechtsradikalenAblehnung von Maßnahmen gegen den Klimawandel zeigt. Mit anderen Worten: Es handelt sich um gesellschaftlicheTransitionsprozesse, die auch nur aus einem gesellschaftsanalytischen, also soziologischen Blickwinkel vollauf begriffen,gemessen und empirisch nachgezeichnet werden können. Mit diesem Plenum ist das Fach dazu angehalten, seine analytischen Kapazitäten für die Untersuchung von Demokratien in Transition zu mobilisieren. Ansatzpunkte dafür finden sich an neuralgischen Punkten potentiell anti-demokratischer Transitionsprozesse:
- Transitionen im Verhältnis von Gesellschaft und Recht bzw. Rechtsstaatlichkeit. Die Erfahrung zeigt, dass autoritäre Umbauversuche häufig bei den Einrichtungen des Rechtsstaats ansetzen – etwa, indem deren Einfluss beschränkt und ihre Unabhängigkeit unterminiert wird (siehe Ungarn (Fidesz), Polen (PiS)). Doch ein anti-demokratisches Verhältnis zum Recht macht sich schon viel früher bemerkbar, etwa in Form eines instrumentellen Rechtsgebrauchs: staatliche Institutionen, Gerichte und die Verfassung werden nur insofernanerkannt, wie es der eigenen Agenda dient. Juristische Verfahren werden genutzt, um Verwirrung zu stiften,das Vertrauen in den Rechtsstaat zu unterminieren und sich als Opfer einer ungerechten Ordnung zu stilisieren (ein aktuelles Beispiel wäre die Blockade der Konstituierung des Thüringer Landtags durch die AfD). SolcheTaktiken zielen darauf ab, den Staat durch seine eigenen Mechanismen zu destabilisieren und Rechtsunsicherheit zu verbreiten. Diese Dynamiken anti-demokratischer Bezugnahme auf Recht erzeugen Unsicherheiten und Ambivalenzen und haben gesamtgesellschaftliche Folgen, die soziologisch zu rekonstruieren wären.
- Kulturell-normative Transitionen. Die These, bestehende demokratische Ordnungen würden zunehmend ausgehöhlt, ist schon seit den 1990er Jahren in den Debatten präsent – sie wurde zum Beispiel in Form von Postdemokratie-Diagnosen vorgebracht. Doch während solche Diagnosen häufig vor allem das Verhältnis von Politik und Wirtschaft in den Blick nehmen, werden jüngst insbesondere Entdemokratisierungsprozessesozusagen ,von unten› relevant: Kulturelle Praxen und eigene Normativitäten, wie sie etwa rechtsextreme oderfundamentalistische religiöse Bewegungen propagieren und wie sie in Widerspruch zu den Prinzipien demokratischer Gesellschaftsordnung stehen, werden offenbar unmittelbar anschlussfähig für erhebliche Teileder Bevölkerung und halten Einzug in den Alltagspraxen und Alltagsüberzeugungen. Demokratische Grundüberzeugungen – Stichwort ‚Zivilreligion‹ – scheinen als gemeinsam geteilte, stabilisierende kulturelleBasis an Plausibilität zu verlieren. Neue Formen der Mobilisierung, Kommunikation und Organisation treten in Erscheinung, die durch die Mechanismen digitaler Medien gestützt und verstärkt werden. (Anti-) Demokratische Transition ist nichts, was alltagsentrückt vor sich geht – soziologisch interessant sind diffuse Prozesse kultureller Diffusion und normativer Aneignung, die solche Transitionsprozesse stützen und fördern.
- Epistemische Transitionen. Der Glaube, rechtsextremes, anti-demokratisches Denken würde sich – da rationalnicht haltbar – mit der Zeit selbst erledigen, ist ein altbekannter Fehler im Umgang mit entsprechenden politischenTendenzen und ein zentraler Topos der religionssoziologischen Diskussion über den Säkularisierungsprozess. Vielmehr könnte und sollte soziologisch der Eigensinn der nur scheinbar ›ver-rückten‹ Realitätsbeschreibungen neuer rechtsradikaler Ideologien, ihrer intellektuellen und religiösen Vorbilder und der ihnen verwandten Strömungen des Verschwörungs- und sog. ›Querdenkens‹ in den Blick genommen werden. Wie wichtig es ist,auf Transitionsprozesse scharf zu stellen, die die gesellschaftliche Denk- und Wissensordnung betreffen, ist in den letzten Jahren empirisch sehr deutlich geworden: Debatten um den gesellschaftlichen Einfluss von ›Fake-News‹, um die Konjunktur verschwörungstheoretischen Denkens, um neue Strategien und intellektuelle Schriften des rechten Extremismus und den Erfolg propagandistischer Mittel legen ein entsprechendes Zeugnis ab. Die Verbreitung rechtsextremer Ideologien – ein Gegenstand, mit dem die Soziologie sehr vertraut ist – muss unter den Bedingungen digitaler Medientransformation neu verstanden werden. Soziologischherausfordernd ist die Frage, wie derartig epistemische Transitionen gesellschaftlicher Denkordnungen mit gesellschaftsstrukturellen Transitionen zusammenhängen und umgekehrt.
Die Plenarveranstaltung versammelt Beiträge, die sich theoretisch und empirisch gehaltvoll diesen und ähnlichen Transitionsprozessen widmen und damit dazu beitragen, Antworten zu finden auf die bereits oben formuliertenGrundfragen: Wie lässt sich das Prekärwerden demokratischer Ordnung erklären? Welche gesellschaftlichen Folgen hat diese Entwicklung? Und was kann die Soziologie in dieser Situation leisten?
Ausrichtende Sektionen und Arbeitskreise: Sektionen: Rechtssoziologie, Politische Soziologie, Soziologische Theorie, Religionssoziologie, Indikatoren, Soziale Probleme und soziale Kontrolle; Arbeitskreise: Normativität, Antisemitismusforschung, Sociology of the Far Right
Jury: Jenni Brichzin (jennifer.brichzin(at)unibw.de), Henning de Vries (henning.devries(at)jura.uni-marburg.de)