Dynamiken der Energiewende. Normen, Infrastrukturen und Teilhabe
Umfassende Transitionen sind stets mit komplexen sozialen Dynamiken verbunden. Die Energiewende verdeutlicht dies. Sie ist ein Prozess, der seine Wurzeln in den ökologischen Krisendiagnosen seit den 1960/70er Jahren hat. Fossile sowie nukleare Energieressourcen sollten und sollen zugunsten regenerativer Energiequellen überwunden werden. Von Anti-Atom-Protesten über Tschernobyl bis zum Kohle- und Atomausstieg sowie der Entstehung von alternativen Energiegenossenschaften vollziehen sich Transitionen, die zuletzt im ›Projekt Energiewende‹ ihren Ausdruck fanden. Dieses wird heute nicht nur soziologisch, sondern auch gesellschaftlich als zentrale Herausforderung unserer Zeit angesehen. Ministerien, Unternehmungen, Verbände, Think Tanks, sozialen Bewegungsorganisationen bis hin zu privaten Akteuren mit unterschiedlichen Hintergründen gestalten die Energiewende heute im (mehr oder weniger) koordinierten Zusammenspiel aus. Sowohl Befürwortende als auch Gegner der Energiewende versuchen, Koalitionen zu bilden und in einer politisierten Lage hochgradig organisiert bestimmte Dynamiken ins Werk zu setzen. Dies sind etwa Dynamiken der Beschleunigung, des Behinderns, der Skalierung, des Experimentierens, der Verwertung, oder der Innovation. Diese Dynamiken umfassen und verknüpfen verschiedene Dimensionen der Energiewende. Das Plenum diskutiert exemplarisch drei Dimensionen, die auch in ihrem Zusammenspiel in anderen Transitionen bedeutsam sind:
- Normen und Normenbildung: Die normativen Orientierungen der Energiewende sind ebenso vielfältig wie die Prozesse und Dynamiken der Normenbildung. Erstere umfassen umkämpfte Werte wie Nachhaltigkeit, Versorgungssicherheit, Effizienz oder Dezentralisierung. Letztere reichen von Bestrebungen, die Deutungshoheit darüber zu gewinnen, was Energiewende heißt, bis hin zu (technischen wie sozialen) Bemühungen der Standardisierung und Regulierung. Verfasst werden etwa Expertisen und Stellungnahmen, etwa von Verbänden, Wissenschaftsorganisationen und Think Tanks, die auf Normenbildung abzielen. Auch Unternehmensstrategien erzeugen normative Vorstellungen, welche die Wirtschaftlichkeit oder Nachhaltigkeit von Prozessen, Maßnahmen und Aktivitäten betreffen und ihnen machtvoll Bedeutung verleihen.
- Infrastrukturen und Infrastrukturierung: Die Energiewende ist gerade durch eine komplexe Verknüpfung von bestehenden und neuen technischen, sozialen und organisationalen Infrastrukturen und Dynamiken der Verriegelung und des Bruchs in der kontinuierlichen Infrastrukturierung gekennzeichnet. Energieinfrastrukturen gestalten zudem die sozial-ökologischen Verhältnisse neu, indem sie einerseits ihre Hauptversprechen, verringerte CO2- und Nuklear-Lasten, einlösen, andererseits aber eigene material-biophysische Anforderungen mit sich bringen, v.a. großflächige Landschaftsveränderungen.
- Teilhabe und Partizipation: Eine Vielzahl von Personen und insbesondere Organisationen beteiligen sich an der Ausgestaltung der Energiewende und bringen ihre Vorstellungen der Energiewende ein. Die Möglichkeiten und Grenzen der Partizipation und einflussreichen Teilhabe sind nicht zuletzt in relevantem Umfang gesellschaftlich erzeugt. Dies ist für Fragen der aktiven Teilhabe an rechtlich-politischen Beteiligungsverfahren, aber auch der weiter gefassten praktischen Ausgestaltung der Energiewende bedeutsam und wirft Repräsentationsfragen auf. Hierüber entstehen im koordinierten Zusammenspiel hochgradig organisierte Dynamiken der Anerkennung, des Ab- und Ausschließens, der Akzeptanzsicherung und Legitimierung oder der Durchsetzung sowie der (faktischen) Exklusion.
Wir wollen diese Dimensionen in der Plenarsitzung systematisch-vergleichend diskutieren, um ein soziologisches Verständnis der Dynamiken von Transitionen am Beispiel der Energiewende zu verfeinern. Wir bitten daher um konzeptionelle und empirische Beitragsvorschläge, die folgende Fragen thematisieren:
- Welche normativen Orientierungen prägen die aktuellen Dynamiken der Energiewende?
- Welche Dynamiken der Normenbildung zwischen heterogenen Akteuren sind kennzeichnend für diese Transition?
- Wie werden bestehende und neue, technische, soziale und organisationale Infrastrukturen miteinander verknüpft?
- Welche Dynamiken (etwa der Pfadverriegelung, der Kreation oder des Bruchs) kennzeichnen Prozesse der kontinuierlichen Infrastrukturierung in der Energiewende?
- Welche informellen und organisierten Dynamiken der Anerkennung und des Ab- und Ausschließens von Akteuren und Gruppen lassen sich feststellen?
- Welche Prozesse der Akzeptanzsicherung und Legitimierung oder der Durchsetzung kennzeichnen diese Transition?
Ausrichtende Sektionen und Arbeitskreise: Sektionen: Organisationssoziologie, Wissenschafts- und Technikforschung, Umwelt- und Nachhaltigkeitssoziologie; Arbeitskreis: Normativitäten in der Sektion Soziologische Theorie
Jury: Robert Jungmann (jungmann(at)uni-trier.de), Marc Mölders (moelders(at)uni-mainz.de)