Rasante, zähe Transitionen: Unverfügbarkeit und Temporalität als Parameter gesellschaftlicher Veränderung
Transitionen werden gesellschaftlich gemeinhin mit Blick auf ein ›Davor‹ und ›Danach‹ als Veränderungsmomente markiert. Auch die wissenschaftliche Beobachtung von Transitionsprozessen nutzt diese Heuristik des Vergleichs zweier Zustände mit zeitlichem Abstand. Transitionen beinhalten notwendigerweise einen zeitlichen Aspekt und damit auch bestimmte Vorstellungen der Temporalität von Veränderungen (von – zu, nicht mehr – noch nicht, noch – schon, …). Um die Dauer und Geschwindigkeit von Übergängen sowie deren Steuerbarkeit entspinnen sich zahlreiche gesellschaftliche Diskurse, Debatten, Konflikte und Praxisfelder. So werden Transitionen u. a. als Einbrüche, Beschleunigung, ›Erdrutsche‹ problematisiert, aber auch als zäh, stockend oder starr. In solchen Problematisierungen wird die Frage der (Un‑)Verfügbarkeit gesellschaftlicher Transitionen als virulentes Thema erkennbar. Das Plenum macht diesen Zusammenhang zwischen der Temporalität von sozialen Dynamiken und einem bedingten Eigensinn von Transitionen zum Thema.
Die Zeitlichkeit sozialer Übergänge entfaltet sich nicht allein sequenziell und linear, sondern kann genauso von Ungleichzeitigkeiten, sich überlagernden zeitlichen Rhythmen unterschiedlicher Geschwindigkeit oder Erschütterungen durch temporäre Ereignisse geprägt sein. Hierin liegt eine Unverfügbarkeit eigener Art. Daneben kann die Kontrollierbarkeit, Steuerbarkeit und Verfügbarkeit von Transitionen aber auch durch Spannungsverhältnisse zwischen mikro- und makrosozialen Zusammenhängen bedingt sein: So ist z. B. ein struktureller Übergang von einer analogen zur digitalisierten Gesellschaft durchaus als individuelle Praxis und Erfahrung relevant und real – etwa durch Veränderungen in der Erwerbsarbeit, der Bildung, in der kulturellen Sphäre von Unterhaltung, beim Konsum oder bei privaten Beziehungen – doch ist die gesamtgesellschaftliche Transition in diesen Formen weder überblickbar noch verfügbar. Dies ruft die alte Frage nach dem Verhältnis von Praxis und Struktur oder von faktischer lebensweltlicher Gegenwart und historischer Kontingenz auf. Schließlich werden Fragen der Zeitlichkeit, Verfügbarkeit und Kontrolle über Transitionen auch Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen – etwa mit Blick auf die Frage, welche sozialen Gruppen oder gesellschaftlichen Kräfte Transitionsprozesse steuern, befeuern oder aber verhindern.
Das Plenum knüpft damit an Grundfragen der Soziologie an und stellt sie in Bezug auf die Temporalität von Transition(‑en) neu. Dabei können gleichermaßen alte wie neue konzeptuelle Zugänge ins Spiel kommen, etwa die einer ›prozessualen‹ Soziologie (Abbott 2020), der historisch orientierten Soziologie z. B. von N. Elias oder post-strukturalistische Ansätze, die den temporalen Eigensinn von Wissen und Diskursen betonen wie von J. Butler (vgl. Sebald/Dimbath/Haag/Heinlein 2023 für einen breiten Überblick). Zu denken wäre aber auch an Ansätze der Arbeits- und Industriesoziologie, Lebensverlaufsforschung, Migrationsforschung, Geschlechterforschung, Bildungsforschung, die alle mit Formen des Übergangs / der Transitionen zu tun haben.
Mit der doppelten Perspektive auf (Un-)Verfügbarkeit und Temporalität will das Plenum sich auch mit gegenwärtigen lebensweltlichen oder aktivistischen Vorstellungen von der Verfügbarkeit sozialen Wandels kritisch auseinandersetzen. Konkret z. B. ließe sich fragen, welchen etwa voluntaristischen Normen Praxen und Rahmungen von ›Gender-Transitionen‹ folgen oder wie derzeit populistische politische Mobilisierungen spezifische Phantasien der Kontrolle gesellschaftlichen Wandels aktivieren (z. B. ›gesteuerte‹ Migration). Damit rückt auch die Frage nach einer Inszenierung von Temporalität als Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen in den Blick, wie wir sie z. B. während der Covid-Pandemie erlebt haben, und sich als Gestus atemloser Dringlichkeit ebenso beschreiben lässt wie als demonstrative Gelassenheit.
Das Plenum lädt Beiträge ein, die, gleich welcher Methoden der Sozialforschung sie sich bedienen, empirisch fundiert und theoretisch ambitioniert das Thema der Temporalität und (Un‑)Verfügbarkeit sozialer Transitionen ausleuchten.
Verantwortlich im Vorstand: Paula-Irene Villa Braslavsky, Diana Lengersdorf, Tobias Boll
Jury: Sarah Speck (s.speck(at)soz.uni-frankfurt.de), Oliver Dimbath (dimbath(at)uni-koblenz.de)